VCS- und TCS-Präsident im Duell: Rettet das Velo als Transport­mittel der Zukunft die St.Galler Innen­stadt?

Ruedi Blumer

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10. September 2019

VCS- und TCS-Präsident im Duell: Rettet das Velo als Transport­mittel der Zukunft die St.Galler Innen­stadt?

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf www.tagblatt.ch.

Es ist umstritten, welchen Stellenwert das Velo im Verkehrssystem der Stadt St.Gallen einnehmen kann. Für VCS-Präsident Ruedi Blumer ist es das Transportmittel der Zukunft. TCS-Präsident Luigi R. Rossi glaubt allerdings nicht daran, dass es das Auto als Hauptverkehrsmittel längerfristig ablösen wird. Für ihn bleibt die Zukunft automobil.

Autos sind heute Hauptverkehrsmittel, Velofahrer eine Minderheit.

Ruedi Blumer: Leider ist das in St.Gallen so. Das Auto nimmt zu viel Platz weg. Es verursacht zu viele Sicherheitsprobleme. Es ist für die Umwelt nicht gut. Oft werden damit kurze Distanzen zurückgelegt. Wir brauchen einen grundlegenden Wechsel. Jener vom Benzin- zum Elektroauto löst die Probleme nicht. Wir müssen dahin kommen, dass wir das Auto nur noch nutzen, wenn das Sinn macht, also beim Mitführen schwerer Waren oder mehrerer Personen.

Wie wollen sie das schaffen?

Ruedi Blumer: Damit möglichst viele auf Strecken unter fünf Kilometern vom Auto aufs Velo umsteigen, müssen wir die Infrastruktur ausbauen. Wichtig ist vor allem, dass wir ein Alltagsnetz aufbauen, das den Velofahrern zusammenhängende, direkte und sichere Verbindungen garantiert.

Wir sollen Strecken unter fünf Kilometer nur noch per Velo fahren?

Luigi R. Rossi: Man kann nicht sagen, unter fünf Kilometer soll man das Auto nicht nehmen. Es gibt Personen, die wegen eines Handicaps darauf angewiesen sind. Dann gibt es jene, die mit dem Auto nicht an einen Ort in der Stadt fahren und bleiben, sondern die weiter müssen. Diese Kategorisierung ist falsch.

Kann der Ausbau der Infrastruktur helfen, das Velo zu fördern?

Luigi R. Rossi: In St.Gallen wurden so viele Parkplätze aufgehoben, dass der Autoverkehr bereits abnimmt. Das hat gravierende Folgen für unsere Innenstadt. Man schaue sich nur die leeren Ladenlokale an. Der Veloverkehr ist keine Lösung. Ich glaube, das Velo wird als Alternative überschätzt. Es kann gar nicht übernehmen, was das Auto effektiv leistet.

Ruedi Blumer: Der Veloboom anderer Städte mit bis zu 20 Prozent Velos wäre in St.Gallen, mit derzeit etwas über vier Prozent Velos, auch möglich. Dafür muss die Infrastruktur verbessert werden. Wenn sie gut, durchgehend, sicher und breit genug ist, wird sie benutzt. Wenn ich als Velofahrer das Gefühl habe, knapp geduldet zu sein, und nicht weiss, wo ich durchfahren soll, ist der Anreiz, Velo zu fahren, nicht wirklich gross.

Luigi R. Rossi: St.Gallen ist keine Velo­stadt. Erste Ursache ist die Topografie: Wir sind nicht Den Haag und werden es auch nicht, solange wir eine Stadt zwischen Hügelzügen sind. Zweiter Faktor ist das Wetter: Im Winter, Frühling und Herbst ist es bei uns oft zu kalt und zu nass zum Velofahren.

Ruedi Blumer: Das Argument der Topografie relativiert sich durch die E-Bikes; die Hügel sind kein Problem mehr. Die Winter werden milder, die Perioden kürzer, in denen Schnee und Eis liegen.

Zurück zum Infrastrukturausbau: Was bringt er beim Velo?

Luigi R. Rossi: Forderungen bezüglich Infrastruktur kann man natürlich stellen. Man muss aber bauliche Massnahmen ins Verhältnis zur Transportleistung setzen, die sie ermöglichen. Es braucht eine Balance von Aufwand und Leistung. Ich habe nichts gegen Velos. Ihre derzeitige massive Bevorzugung ist für mich aber unakzeptabel. Ich setze Fragezeichen bei grösseren Velo-Investitionen, wenn ich sehe, dass auf der Lindenstrasse, nachdem sie Velostrasse wurde, die Zahl der Velofahrer abgenommen hat.

Haben sie etwas gegen Velos?

Luigi R. Rossi: Nichts. Gar nichts. Der TCS organisiert seit Jahrzehnten Velounterricht für Schülerinnen und Schüler. Wir haben dafür viel Geld investiert. Was mich aber aufregt: Die Autoverbände versuchen mit allen Mitteln, Lenkerinnen und Lenker dazu zu bringen, sich an die Verkehrsregeln zu halten. Auf der anderen Seite sehe ich ständig Velofahrer, die durch die Fussgängerzone brettern, Rotlichter missachten oder über Fussgängerstreifen abkürzen.

Ruedi Blumer: Und ich wehre mich dagegen, dass man so verallgemeinert. Natürlich gibt es diese Velofahrer. Genauso wie es Autofahrer gibt, die sich nicht an Vorschriften halten.

Luigi R. Rossi: Gebt doch endlich gut hörbare Empfehlungen an Velofahrer ab, sich an die Vorschriften zu halten. Wir vom TCS tun das beim Auto ja auch.

Ruedi Blumer: Ja, es gibt Velofahrer, die sich nicht an die Regeln halten. Das muss man verbessern; und der VCS ist da auch engagiert. Wir werden aber bei keinem Verkehrssystem erreichen, dass es keine Regelverstösse mehr gibt…

Luigi R. Rossi: Ja, das stimmt. Auch bei den Autofahrern gibt es solche, die elementarste Vorschriften missachten.

Ruedi Blumer: Wir werden das nie perfekt hinbringen – darum ja unsere Forderung nach einer möglichst guten Infrastruktur. Und nach Entflechtung dort, wo viel Verkehr fliesst, sie also auch bezüglich Sicherheit Sinn macht.

Luigi R. Rossi: Ja. Entflechten, trennen, damit man sich auf den engen Verkehrsflächen in der Altstadt nicht in die Quere kommt. Man muss durchsetzen, dass Velofahrer nicht dort durchfahren, wo es in der Fussgängerzone verboten ist. Dass sie absteigen und das Velo stossen. Ich wiederhole mich: Solche Verstösse sind der Hauptgrund, dass die Akzeptanz der breiten Bevölkerung für Investitionen für Velos fehlt. Wir hören immer wieder: «Macht etwas gegen diese Velofahrer!»

Die Velo-Infrastruktur ist löchrig. Wieso passiert trotz links-grünen Mehrheiten in der Politik so wenig?

Ruedi Blumer: Diese Mehrheiten sind knapp, es gibt sie erst seit kurzem. Es braucht Zeit, bis sich das auswirkt. Nicht zuletzt, weil es ja auch immer noch heftige Opposition gegen ein zu forsches Tempo bei der Neuausrichtung der Verkehrspolitik gibt. Ich sähe es gerne, wenn sich der nicht mehr bürgerliche Stadtrat stärker für Velo-Anliegen einsetzen und beim Auto stärker auf die Bremse stehen würde. Der Stadtrat könnte da mutiger sein und schneller vorwärts machen.

Luigi R. Rossi: Wie gesagt: Damit Velo-Anliegen Gehör finden, müsstet ihr eure Leute dazu bringen, sich besser an die Verkehrsregeln zu halten. Solange das nicht geschieht, habt ihr keine Reputation, Ausbauprojekte zu verlangen. Dieses Thema interessiert die Velopolitiker aber nicht; sie lassen die Velos fahren, wie sie wollen. Darum werden ihre Anliegen von der Bevölkerung nicht getragen. Da stellt ihr euch selber ein Bein. Wie will der VCS St.Gallen konkret zur Velostadt machen?

Ruedi Blumer: Für Infrastrukturausbauten müssen wir die Investitionen verlagern. Wo nötig, müssen wir den Platz reduzieren, den die Autofahrer heute einnehmen, damit die Situation der Velofahrer verbessert werden kann. Die Mobilitätszukunft in der Stadt muss in Richtung Velo gehen. Parallel dazu müssen wir die Gewohnheiten verändern. Das Pièce de Résistance ist unsere Bequemlichkeit. Sie zu überwinden, muss gelingen, wenn die Stadt Zukunft haben soll.

Luigi R. Rossi: Der VCS will die Leute umerziehen, wir vom TCS nicht. Wir sind der Meinung, dass es die Freiheit des Einzelnen ist, zu entscheiden, wie er mobil ist – ob zu Fuss, mit dem Velo oder dem Auto. Auch die Stadt St.Gallen will umerziehen: Sie hebt Parkplätze auf…

Ruedi Blumer: …nicht umerziehen. Wir wollen lenken. Wenn es weniger Parkplätze gibt, wird es interessanter, sich mit dem Velo fortzubewegen…

Hat das Velo wirklich das Potenzial, um das Auto zu ersetzen?

Luigi R. Rossi: Das funktioniert nicht. Mit dem Velo können wir die Innenstadt nicht am Leben erhalten. Jene, die mit dem Auto einkaufen wollen, und das sind nicht Wenige, fahren dann halt mit dem Auto zu den Einkaufszentren auf der grünen Wiese. Das finde ich eine falsche Entwicklung und das Letzte, was wir wollen. Wir müssen doch nicht diese Einkaufszentren fördern.

Ruedi Blumer: Schauen wir etwas weiter in den Norden: In skandinavischen Städten sind bis zu 40 Prozent der Leute mit dem Velo unterwegs. Und das bringt Leben in die Stadtzentren und die Quartiere. Das ist der nächste Schritt der kommen muss. Die sind uns weit voraus. Jene, die das Auto durch alle Böden verteidigen, müssen offener werden. Man müsste das Lieblingsgefährt Auto etwas weniger lieb haben, dann hätte man den Kopf etwas freier für neue Lösungen.

Luigi R. Rossi: Das ist Wunschdenken. Man muss sich nur anschauen, was der Autoverkehr leistet. Ich bin überzeugt, dass die Lösung für unsere Verkehrszukunft anders aussieht. Stichwort «Autonomes Fahren»: Wissenschafter glauben, dass Lösungen für Grossstädte nur auf dem Auto basieren können. Singapur und Schanghai experimentieren mit Autos, die autonom zirkulieren und die man von Fall zu Fall nimmt, um von einem Punkt zum anderen zu kommen. Das ist eine andere Art, Auto zu fahren: Man sitzt hinein und lässt sich fahren. Das Velo als Alternative spielt bei solchen Überlegungen nie eine Rolle.

Ruedi Blumer: Eine Lösung ist das aber auch nur, wenn es gelingt diese autonom fahrenden Autos gut auszulasten. Wenn die einfach zusätzlich leer herumkurven, verschärfen sie die Platzprobleme auf den Strassen nur noch.

Hier zum Artikel auf www.tagblatt.ch.